Anfänge – Umbrüche – Wendungen. "Rites de passage" in der Sozial- und Medizingeschichte

Anfänge – Umbrüche – Wendungen. "Rites de passage" in der Sozial- und Medizingeschichte. Eine Tagung zu Ehren von ao. Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Dietrich-Daum

Organisatoren
Marina Hilber, Innsbruck; Elena Taddei, Innsbruck; Alois Unterkircher, Ingolstadt
PLZ
6020
Ort
Innsbruck
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.02.2023 - 24.02.2023
Von
Sabrina Schober, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Das Symposium wurde als Abschiedstagung anlässlich der bevorstehenden Pensionierung der Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Ao. Prof. Dr. Elisabeth Dietrich-Daum an der Universität Innsbruck veranstaltet. Als Gründungsmitglied und Sprecherin des universitären Forschungszentrums Medical Humanities, als langjähriges Mitglied und ehemalige Präsidentin des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin und als Leiterin diverser Forschungsprojekte wie etwa zum Südtiroler Landarzt Franz von Ottenthal (1818–1899) und seinen Patient:innen oder zur Kinderbeobachtungsstation Nowak-Vogl trug Dietrich-Daum wesentlich zur Etablierung der Sozialgeschichte der Medizin an der Universität Innsbruck und in Österreich bei.

Dem personellen und persönlichen Umbruch durch den anstehenden Ruhestand Dietrich-Daums entsprechend, fragte die Tagung nach „Rites de passage“ in der Sozial- und Medizingeschichte. Dazu wurden langjährige Wegbegleiter:innen sowie (ehemalige) Studierende der Jubilarin aus Österreich, Deutschland und der Schweiz als Vortragende geladen.

MICHAEL STOLBERG (Würzburg) eröffnete das erste Panel, welches sich kollektiven Umbrüchen in der Geschichte der Medizin verschrieb. Stolbergs Vortrag widmete sich der zunehmenden Bedeutung der praktischen Ausbildung in der Medizin im 16. Jahrhundert. Als Quellengrundlage dienten ihm die paduanischen collegia, jene in studentischen Mitschriften verbrieften Diskussionen eines medizinischen Falls durch mehrere Professoren unterschiedlicher Fachrichtungen. Der Vortragende schlussfolgerte, dass Studierende diese Methode des Unterrichts sehr schätzten, das Beharren auf der eigenen Behandlungsmethode seitens der Professoren von professionspolitischer Bedeutung war und die collegia die Hierarchien innerhalb der Professorenschaft deutlich machten.

Im Mittelpunkt der Betrachtungen von ALFRED STEFAN WEIß (Salzburg) und ELISABETH LOBENWEIN (Klagenfurt) stand der „Sensual Turn“ als möglicher Umbruch bei der Betrachtung von Hospitalräumen. Ihre These war, dass frühneuzeitliche Hospitäler für Kranke, Stadt- und Marktbewohner:innen nur zum Teil als räumlich abgeschlossen verstanden werden können und stattdessen von einem Sinnesraum im Umfeld des Hospitals ausgegangen werden sollte. Diesen rekonstruierten die Vortragenden entlang der menschlichen Sinne. So verbreiteten Spitäler zum Beispiel einen „Charme“ (Geruch verdorbener Lebensmittel, kranker und ungewaschener Personen, etc.), der auch für „gesunde“ Stadtbewohner:innen riechbar war. Das Spital wurde somit als Raum von innen sowie außen wahrgenommen und von den Sinnen mitkonstruiert.

Den Abschluss des ersten Panels bildete ANDREAS WEIGLS (Wien) Vortrag über den Zusammenhang zwischen Kameralismus und Medizin. Unter dem Vorsatz, dass Multidisziplinarität keineswegs unüblich war, fragte Weigl danach, ob es eine Verbindung der Ökonomie und der Medizin gab und fand eine beide Kategorien umschließende Klammer vor allem in der städtischen Policey. Dabei waren präventive Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung von zentraler Bedeutung, denn die Gesundheit war und ist von staatlichem und wirtschaftlichem Interesse.

Individuellen Umbrüchen widmete sich das zweite Panel, welches von MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) eingeleitet wurde. Anhand der Vita des „naturbesessenen“ Geistlichen Anton Plattner (1787–1855) referierte die Vortragende über die Gegensätze „gesund“ – „krank“ und „Wildnis“ – urbaner Raum. Immer wieder fanden Umbrüche in der Biographie Plattners statt, geprägt von Einweisungen in die psychiatrische Anstalt und ins Korrektionshaus sowie der Flucht aus der Zivilisation und dem Rückzug in die „wilde“ Natur. Die Figur Plattners zeigt die Herausforderungen für psychisch „erkrankte“ Personen in den bestehenden Gesellschaftsstrukturen und gibt Aufschluss über eine medizingeschichtliche Darstellung von Natur und Emotionen. Gerade das Motiv der Einsamkeit in den Bergen/der Natur findet sich auch in anderen von Heidegger bearbeiteten Krankenakten wieder – auch als Gegensatz zu körperlichen Zwangsmaßnahmen.

Einen weiteren individuellen Umbruch bildet das Leben Peter von Scalas (1762–1832), einem „Pionier“ der Schutzpockenimpfung (Vakzination) in Tirol, welchen ELENA TADDEI (Innsbruck) in ihrem Beitrag behandelte. Sie ging der Frage nach, ob Scala tatsächlich ein Pionier gewesen sei oder vielmehr ein Opportunist, der sich der Impfung als Werkzeug zur Förderung der eigenen Karriere als Arzt bediente. Scala eckte mit seiner forschen Persönlichkeit immer wieder bei den Obrigkeiten an. Der Arzt forderte mehrfach die Einführung einer Impfpflicht, impfte ohne offiziellen Bescheid in Eigeninitiative und erklärte sich schließlich in einem von ihm veröffentlichten Werk zum Pionier der neuen Seuchenschutzmaßnahme.

Den dritten Umbruch des Panels präsentierte ANDREAS GOLOB (Graz) in der Person Oskar Eberstallers (1851–1939). Das Leben des Stadtphysikus’, Vereinsmeiers und Turnlehrer:innenausbildners spielte sich stark zwischen Sanitätswesen und Vereinswesen ab. Nach dem Medizinstudium beschäftigte er sich wissenschaftlich vor allem mit der Vermessung von Gehirnen, was ihm interdisziplinäre Anerkennung einbrachte. Zudem war er in städtischen Sanitätsgremien und zunehmend auch in der Turnlehrer:innenausbildung engagiert, deren Leiter er schließlich wurde. Die (Dis-)Kontinuitäten der Beziehungsgeflechte innerhalb und zwischen diesen drei Arbeitsfeldern Eberstallers wurden anhand der Akteur-Netzwerk-Theorie betrachtet.

Der nächste Tag wurde mit einem Panel zu therapeutischen Grenzgängen eröffnet. IRIS RITZMANN (Zürich) sprach im Rahmen einer Sozialgeschichte der Tuberkulose vom Aufkommen und dem Niedergang der Behandlungsmethode der Liegekur. Dabei ging sie der Frage nach, was der Liegekur zu ihrem Aufstieg verhalf und warum sie wieder verschwand. Der Theorie einer klimatischen Ursache für die Tuberkulose folgend, entstand die Lehrmeinung von immunen Orten. In der Schweiz wurde 1889 das erste geschlossene Sanatorium im Hochgebirge eingerichtet, in dem die Kur mit täglich 6–9 Stunden langem Liegen strikt durchgeführt wurde. Dass sich die Liegekur trotz starker Kritik so lange halten konnte, führte Ritzmann auf drei Gründe zurück: (Gesellschaftliche) Skandalisierung der Tuberkulose, deren wirtschaftliche und biopolitische Nutzbarkeit sowie eine gezielte „Heilsverkündung“.

Das Kinderlähmungsinstitut von Dr. Wilhelm Püschel (1904–1967) in Vorarlberg war Gegenstand der Betrachtungen von MARINA HILBER (Innsbruck). So wie die Tuberkulose war auch Poliomyelitis eine skandalisierte Krankheit. Zwar gab es verschiedene Möglichkeiten einer Therapie, die die Lähmungen mildern sollte, aber es setzte sich kein einheitliches Konzept der Rehabilitation durch. Die Schulmedizin sah die Zeit kurz nach der Erkrankung als die aussichtsreichste für eine vollständige Wiederherstellung der Mobilität. Dagegen stellte sich Dr. Püschel, der gemeinsam mit seiner Gattin, einer Gymnastiklehrerin, ein alternatives Behandlungsprogramm auf der Basis von Zirkulations- und Nervenmassage gepaart mit Gymnastikeinheiten, entwickelte. Der Erfolg der Therapie, der auch „veralteten“ Fällen helfen sollte, lag wohl vor allem in der Individualität der Behandlung begründet.

Abschließend sprach MARTINA RABENSTEINER (Innsbruck) zum Thalidomid/Contergan-Skandal in Österreich. Contergan wurde Ende der 1950er-Jahre als harmloses Schlafmittel sowie gegen Schwangerschaftsübelkeit auf den Markt gebracht. Während es in Österreich rezeptpflichtig war, gelangte es in Deutschland freiverkäuflich auf den Markt. Bereits 1960 wurde ein Zusammenhang mit Fehlbildungen bei Säuglingen hergestellt, ein Jahr später wurde das Medikament schließlich vom Markt genommen. Rabensteiner verflocht die Geschichte des Skandals mit der Biografie dreier Personen: Dr. Andreas Rett, welcher Tests mit Thalidomid an Kindern durchführte, Dr. Ingeborg Eichler, welche als Mitglied der österreichischen Zulassungskommission für Arzneimittel eine Rezeptpflicht für Thalidomid einforderte sowie Hilda Halbwachs, welche das Medikament während der Schwangerschaft von ihrem Arzt erhielt.

Das Panel „Räumliche Grenzgänge“ wurde von ALOIS UNTERKIRCHER (Ingolstadt) eröffnet, der anhand der Aufhebung der Bayerischen Landesimpfanstalt 1983 das Ende der Ära der Pockenschutzimpfungen darstellte. Dabei betrachtete er den räumlichen Übergangsritus und Transformationsprozess des Gebäudes der Impfanstalt. Nach der offiziellen Ausrottung der Pocken gelang die Umwandlung der Anstalt in ein Kompetenzzentrum für Impfungen, vor allem aber für Tropenkrankheiten, nicht. Stattdessen wurde das Gebäudeensemble, das Stallungen und Laborräumlichkeiten umfasste, schließlich zu einem Polizeirevier umfunktioniert.

Das Konzept Raum stand auch im Mittelpunkt des Vortrags von MICHAELA RALSER (Innsbruck) zum Institutionenmodell „Anstalt“. Die Pädagogin sprach vor allem von der institutionellen Unterbringung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen sowie deren bauliche und symbolische Gestaltung. Die Erziehungsanstalt war eine Raumantwort auf soziale Probleme bis in die 1990er-Jahre. Anhand eines Querschnitts zeigte Ralser auf, wie und weshalb Erziehungsanstalten trotz Wandlungen immer wieder als Institutionsmodell herangezogen wurden.

ALWIN CUBASCH (Berlin) berichtete über das „Meal System for the Elderly“ der NASA, welches in den Jahren 1975 bis 1977 in Texas durchgeführt wurde. Das Meal System for the Elderly setzte beim Umschwung von der institutionellen Pflege zur Heimverpflegung an. Im Laufe des über die Pilotphase nicht weitergeführten, kostspieligen Forschungsprojektes wurde neues Wissen über Ernährung, Geriatrie und Gesundheit generiert.

Der letzte Tagungsbeitrag von HEINER FANGERAU (Düsseldorf) stellte im Rahmen von sozialen Grenzgängen die Schmähkultur in den Lebenswissenschaften um 1900 in den Fokus. Spätestens seit der Frühen Neuzeit gab es Richtlinien, wann in wissenschaftlichen Disputen Grenzen überschritten wurden. Bei solchen Meinungsverschiedenheiten ging es meist um Reputation sowie das eigene disziplinäre Schaffen aber auch um bestimmte Strategien. Fangerau konnte deutlich machen, dass der akademische Streit sich nicht auf die Frage von zulässiger Kritik und persönlicher Schmähung schmälern lässt, sondern dass diese Komponenten miteinander in Zusammenhang standen.

In einem anschließenden Abschlusssegment wurden die Tagungsinhalte von Alois Unterkircher zusammengefasst und geschickt mit der Biographie Dietrich-Daums verwoben. Zusätzlich diskutierten die Tagungsteilnehmer:innen die Frage nach der Zukunft der Medizingeschichte. Die Tagung konnte zeigen, dass die Sozialgeschichte der Medizin immer noch ein fruchtbares und aktives Forschungsfeld mit viel Raum für Umbrüche und Wendungen ist.

Konferenzübersicht:

Ulrike Tanzer (Innsbruck) / Dirk Rupnow (Innsbruck): Begrüßung und Eröffnung der Tagung

Elena Taddei (Innsbruck) / Marina Hilber (Innsbruck): Einführende Bemerkungen

Panel I: Kollektive Umbrüche
Reinhard Nießner (Innsbruck): Moderation

Michael Stolberg (Würzburg): Kasuistischer medizinischer Unterricht im 16. Jahrhundert: die paduanischen collegia

Alfred Stefan Weiß (Salzburg) / Elisabeth Lobenwein (Klagenfurt): Die österreichischen Hospitäler der Frühen Neuzeit und der „Sensual Turn“. Ein möglicher Umbruch in der Betrachtungsweise des Innenlebens von Hospitalräumen

Andreas Weigl (Wien): Kameralismus und Medizin

Panel II: Individuelle Umbrüche
Patrick Kupper (Innsbruck): Moderation

Maria Heidegger (Innsbruck): „Naturbesessen“. Über den Tiroler Geistlichen Anton Plattner (1787–1855)

Elena Taddei (Innsbruck): Peter von Scala: Pionier der Schutzpockenimpfung in Tirol von „äußerst pöbelhaft, unanständige[m], den unruhigsten Geist bezeichnende[m] Ausdrucke“

Andreas Golob (Graz): Oskar Eberstaller (1851–1939): Stadtphysikus – Vereinsmeier – Turnlehrer:innenbildner

Kamingespräch:
Bekenntnisse einer Grenzgängerin: Von Ritualen in der Wissenschaft und deren Überschreitung – Elisabeth Dietrich-Daum und Eberhard Wolff im Gespräch
Wolfgang Meixner (Innsbruck): Moderation

Panel III: Therapeutische Grenzgänge
Alwin Cubasch (Berlin): Moderation

Iris Ritzmann (Zürich): Tuberkulose. Aufkommen und Niedergang der Liegekur

Marina Hilber (Innsbruck): Rehabilitation abseits des therapeutischen Mainstreams. Das Kinderlähmungsinstitut Dr. Püschel in Vorarlberg, ca. 1950–1962

Martina Rabensteiner (Innsbruck): Thalidomid/Contergan in Österreich: Ein Skandal. Mehrere Perspektiven.

Panel IV: Räumliche Grenzgänge
Ute Hasenöhrl (Innsbruck): Moderation

Alois Unterkircher (Ingolstadt): Das Ende einer Ära: Die Aufhebung der Bayerischen Landesimpfanstalt im Jahre 1983

Michaela Ralser (Innsbruck): Das Institutionenmodell ANSTALT als spezifisch ordnende RAUM-Antwort auf soziale Probleme. Ein Streifzug durch mehrere Anwendungsfelder mit offenem Ende…

Alwin Cubasch (Berlin): Das „Meal System for the Elderly“ als Keimzelle einer geriatrischen Landschaft? Altenpflege und Lebensmitteltechnologie der NASA im ländlichen Raum, Texas 1975–1977

Panel V: Soziale Grenzgänge
Ina Friedmann (Innsbruck): Moderation

Heiner Fangerau (Düsseldorf): Schmähkultur in den Lebenswissenschaften um 1900. Ein Beispiel aus der Physiologie

Abschließende Bemerkungen: Umbrüche und Wendungen in der Medizingeschichte: Abschließende Bemerkungen
Alois Unterkircher (Ingolstadt): Moderation

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Englisch, Deutsch
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